Organisches Design

Design by nature 1

Design by nature 1

Erstaunlich auf was man beim Surfen manchmal zufällig stösst: Eine Seite zum Thema Urban Agriculture führte mich zu einem Video von Neri Oxman, das mich fasziniert und inspiriert hat. Dieses Video hat mich noch mehr berührt als die berühmte Rede von Steve Jobs.

Seither purzelt ein Kaleidoskop von Ideen zu 3D-Druck, organischem Design, industrieller Revolution, neuen, abbaubaren Materialien und Änlichem in meinen Gehirnwindungen herum. In diesem Beitrag versuche ich, das kreative Chaos in meinem Kopf etwas zu ordnen und ein paar Ideen, die hängen geblieben sind, weiterzuspinnen.

Chitosan

Design by Nature 2

Design by Nature 2

Chitosan ist eine aus Chitin hergestellte Paste, die für den 3D-Druck genutzt werden kann. Mit diesem Material lassen sich mit 3D-Druckern Produkte fertigen, die ähnlich leicht, belastbar und biologisch abbaubar sind wie Insektenflügel oder Krabbenpanzer. Dieser Gedankenfaden verleitet mich zu wilden Spekulationen, was man noch alles als Ausgangsmaterial für den 3D-Druck benutzen könnte: Schokolade (wieso fällt mir das bloss als erstes ein), Zucker, Fett oder Stärke. Jedes Mal, wenn ich mir an einer Kartoffel die Finger verbrenne, frage ich mich sowieso, warum wir nicht mit Kartoffeln Isolationsmaterial herstellen.

Interessant sind natürlich auch nicht essbare Materialien wie Holz, Gips oder Lehm. Gerade letzteres beflügelt meinen Erfinderinnengeist: Ein 3D-Drucker, der unmittelbar vor dem Spritzen Wasser und Lehmpulver mischt, müsste ja eigentlich nicht schwieriger zu konstruieren sein als ein Drucker, der Filament erhitzt. In der Kaffeemaschinenindustrie dürfte das notwendige Wissen für eine solche Fertigung vorhanden sein. Und falls Sie das jetzt eine absolut hirnverbrannte Idee finden: Stratasys, mittlerweile ein Konzern mit fast 3000 Mitarbeiter/innen, ist entstanden, weil der Gründer Scott Crump 1988 mit einer Heisskleberpistole für seine Tochter einen Spielzeugfrosch basteln wollte. So erzählt es zumindest Wikipedia.

Analyse, Modellierung und Herstellung in einem einzigen Prozess

Design by Nature 3

Design by Nature 3

Am Beispiel eines Hüftgelenks erläutert Oxman, wie die Natur Dinge nach einem ganz anderem Prinzip erschafft als jenem, nach dem wir seit der Erfindung der Massenproduktion durch Henry Ford unsere arbeitsteilige Industrie aufgebaut haben. In der Industrie setzt man Produkte aus Einzelteilen zusammen, von denen jedes im Normalfall aus einem homogen verarbeiteten Material besteht. In der belebten Natur dagegen wachsen Organismen, indem sie Grundmaterialien strukturell variieren.

Allerdings gibt es auch in der heutigen Welt Prozesse, die durchaus so stattfinden, wie Oxman dies beschreibt: Ein Kunstmaler erschafft auf diese Art ein Werk (so stelle ich mir das zumindest vor). Und auch auf meinem eigenem Gebiet ist mir diese Vorgehensweise vertraut: In einem kleinem Softwarehaus werden Erweiterungen der Funktionalität in Webprojekten oft genau auf diese Weise gemacht. Ich analysiere die neue Anforderung des Kunden, erstelle vielleicht auf Papier ein Diagramm zur Ablaufsteuerung, beginne mit der Umsetzung und merke während der Programmierung, welche weiteren Punkte ich noch beachten muss. Wenn ein Schritt zu kompliziert wird, greife ich wieder zu Papier und Bleistift, um mir den Ablauf zu verdeutlichen. Dazwischen rufe ich ständig die entstehenden Seiten auf, um die Funktionalität zu testen und eventuell anzupassen. Analyse, Modellierung, Produktion und Testen gehen in sehr kurzen Zyklen ineinander über.

Typisch für die zwei Beispiele, die ich soeben gebracht habe, ist, dass das Produkt zwar auch eine materielle Komponente hat, aber die Essenz des Gutes Information ist: Es sind nicht die auf einer Festplatte eingravierten Bits, die ein Kunde als Software kauft. Und die Kunstsammlerin interessiert sich wohl nur ganz am Rande für die Mengen an Farbe und Leinwand, die in einem Bild verarbeitet wurden.

Ein materieller Prozess, der Analyse, Modellierung, Herstellung und Testen integriert, ist das Kochen. Rezepte kann man als Modelle betrachten. Aber auch Kenntnisse über chemische Prozesse sind eine Art Modelle. Ich denke zum Beispiel an das Alltagswissen, dass man eine Sauce mit Mehl binden kann. Das ist nichts anderes als ein gedankliches Modell, wie man durch Zugabe von gewissen Stoffen und Hitze die Konsistenz einer Flüssigkeit ändern kann. Vor der Zubereitung der Mahlzeit analysiert man die vorhanden Ressourcen: Nicht nur die Zutaten, sondern auch Zeit und vorhandenen Werkzeuge (Ach die grosse Pfanne steht ja noch mit den Resten von gestern im Kühlschrank). Während des Kochens überprüft die Köchin den Prozess, indem sie in die Pfanne schaut (visueller Sensor), rührt (Konsistenzüberprüfung), auf den Geruch reagiert oder probiert. Je nach Ergebnis wird der Prozess angepasst: Etwas mehr Flüssigkeit, etwas weniger Hitze etc. Na, das ist doch mal was: Das Heimchen am Herd als Vorreiterin eines neuen industriellen Paradigmas!

Hemmnisse

Nach einem Tag der Musse – ich habe ihn mit Lesen, Googeln, Denken und Blog schreiben verbracht – ist die anfängliche Begeisterung einer gewissen Ernüchterung gewichen. Stratasys, die von Oxman immer wieder erwähnte 3D-Drucker-Firma, hat heute Morgen ihren Quartalsbericht veröffentlicht, mit sage und schreibe fast einer Milliarde Verlust, worauf der Börsenkurs – drei Mal dürfen Sie raten – kräftig angezogen hat. Wenn eine Milliarde Verlust von der Börse als gute Nachricht aufgenommen wird, dann möchte ich nicht wissen, wie die Zahlen bei einer schlechten Nachricht aussehen. Da verstehe einer die Börsen!

Auch bei Oxman ist mir aufgefallen, dass sie an sehr vielen verschiedenen Projekten und Produkten beteiligt ist, die gelobt und mit Preisen überhäuft werden, um anschliessend in einem renommierten Museum zu verschwinden. Bis jetzt habe ich keinen Beleg gefunden, dass von irgendeinem dieser Produkte mehr als ein einziges Exemplar produziert wurde. Am Beispiel der „carpal skin“ habe ich mir das etwas genauer angesehen: Die carpal skin ist eine mit dem 3D-Drucker erstellte Stützmanschette, die dem individuellen Schmerzprofil eines Patienten angepasst wird, um die Beschwerden beim Karpaltunnelsyndrom zu behandeln. Das Projekt entstand 2010, d.h. vor fünf Jahren. In dieser Zeit müsste man doch ein paar Schritte weiter in Richtung praktischer Umsetzung gekommen sein. Ich habe im Web keine heisse Spur gefunden, dass irgend etwas derartiges passiert ist. Über Gründe kann ich nur spekulieren: Vielleicht funktioniert die Manschette schlicht nicht wie vorgesehen? Oder eine Weiterentwicklung bis zur Praxisreife wurde gar nie angestrebt? Am wahrscheinlichsten ist, dass die Vorteile einer solchen Behandlung gegenüber bisherigen Therapien nicht so viel grösser sind, als dass sich die Mehrkosten rechtfertigen. Oder um es etwas sozialkritischer zu formulieren: Diejenigen, welche eine solche Manschette nötig hätten, können sie nicht bezahlen. Produktion richtet sich in einer kapitalistischen Ökonomie ja nicht an den Bedürfnissen, sondern an der Zahlungsbereitschaft aus.

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